Nachdem ich vor einigen Monaten Demoversionen verschiedener Schnittmusterprogramme ausprobiert hatte, fiel meine Wahl auf den “PatternMaster”, nicht zuletzt deshalb, weil der amerikanische Hersteller Wildginger ein 3-monatiges Rückgaberecht einräumt.
Wildginger empfiehlt, die verwendeten Maße zunächst mit einem “Sloper” = Nesselmodell zu testen, und bietet für dessen korrekte Anpassung Emailsupport an. Sobald dieses Testmodell gut sitzt, hat man einen Grundschnitt, auf dessen Maßen alle weiteren Schnittmuster basieren.
Dieses Vorgehen ist nach meiner Erfahrung sehr sinnvoll, denn korrektes Maßnehmen ist, wenn kein professioneller Schneider oder zumindest sehr guter und geübter Hobbyschneider die Maße nimmt, gar nicht so einfach. Für manche Werte braucht man ohnehin Hilfe, denn Werte wie die Rückenbreite oder -länge lassen sich alleine der notwendigen Verrenkungen wegen nicht richtig feststellen.
Amerikanische vs. deutsche Maße
Das Programm läßt sich freundlicherweise nicht nur in Inch, sondern auch in Zentimetern bedienen. Gelegentlich zeigt die Maßtabelle Rundungsdifferenzen; man sieht dann beispielsweise eine Weite von 90 cm angegeben als 89,999999999999 cm. Ein kleiner Schönheitsfehlern im Programm, der die Funktionalität jedoch keineswegs beeinträchtigt.
Die erste Hürde bietet das System, indem Maße gefordert werden, die ich von meinen bisher gelernten Schnittmusteranleitungen gar nicht kannte. Positiv überrascht war ich jedoch, daß für Damenkleidung auch die BH-Körbchengröße gefragt wird, die bei handelsüblichen Schnittmustern nahezu immer vernachlässigt wird.
Die BH-Größe bietet einen zusätzlichen Stolperstein; erst beim Erstellen des “Slopers” kam ich darauf, daß deutsche und amerikanische Körbchengrößen zwar gleich heißen, aber auf unterschiedlichen Maßen basieren.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß das Programm in englischer Sprache arbeitet (man lernt eine Menge neue Vokabeln!), und der Support ebenfalls auf Englisch korrespondiert.
Sloper / Grundschnitt für ein Oberteil
Das Programm bietet mehrere Optionen für die Testmodelle:
- Oberteil bzw. durchgehend geschnittenes Kleid mit Abnähern
- Schulterfreies Kleid mit Teilungsnähten (den Sinn dieses Testmodells habe ich bisher nicht verstanden)
- Rock
- Hose
Das Oberteil bis über die Hüfte wählte ich als erstes Projekt.
Schnittmuster erstellen
Im Programm wird der Schnitt nach der Maßtabelle automatisch angelegt.
Für die weitere Gestaltung des Grundschnitts gibt es nur ganz wenige Auswahlmöglichkeiten:
Der Schnitt enthält im Vorderteil seitliche Brustabnäher und wahlweise einfache oder doppelte Taillenabnäher. Rückenabnäher stehen in der Taille ebenfalls einfach oder doppelt zur Wahl. Zusätzlich kann man im Rückenteil einen weiteren Schulter-, Halsausschnitt-, Armloch- oder Mittelnahtabnäher wählen.
Nahtzugaben lassen sich beliebig ein- oder ausschalten; ich bevorzuge Schnittmuster grundsätzlich ohne sie.
Wildginger empfiehlt für den ersten Versuch, zunächst die Voreinstellungen zu übernehmen und erst später bei Bedarf anzupassen. An diese Vorgaben hielt ich mich.
Schnittmuster ausdrucken + zusammenkleben
Das im Programm erstellte PDF ließ sich problemlos ausdrucken; mit der Voreinstellung “Originalgröße” kamen die Seiten korrekt aus dem Drucker. Paßmarken auf jedem Blatt und eindeutige Beschriftung erleichtern das Zusammenkleben.
Alle Schnitteile sind eindeutig beschriftet und enthalten neben den üblichen Markierungen noch weitere Linien auf Höhe von Brust, Taille und Hüfte sowie den Brustpunkt.
Grundschnitt zuschneiden und markieren
Für das Modell eignet sich jeder helle, unifarbene Stoff, der gut formstabil ist,: ein altes Laken, eine ausgediente Tischdecke, ein Reststück Baumwoll- oder Leinenstoff … – was immer Sie zur Hand haben.
Beim Zuschnitt sollte man nicht nur die Abnäher und Einsatzzeichen auf den Stoff übertragen, sondern auch die Nahtlinien, damit man die Konturen des Schnitts beim Nähen wirllich exakt einhält. Auf die rechte Stoffseite kommen zudem der Brustpunkt und die Brust-, Taillen- und Hüftlinien. Sie dienen dazu, die Positionierung der Abnäher zu kontrollieren und zeigen an, ob figurbestimmenden Linien gerade und auf der richtigen Höhe sitzen.
Für die Markierungen habe ich mit dicken Buntstiften gearbeitet, damit die Linien gut sichtbar sind
Testmodell des Grundschnitt nähen
Das Versäubern kann man sich bei diesem Kleidungsstück guten Gewissens sparen.
Um leichter auftrennen zu können, habe ich die Nähte mit großer Sticheinstellung genäht, ohne am Anfang und am Ende vorwärts-rückwärts zu sichern. Bunte Garnreste – eine gute Gelegenheit, ein paar davon aufzubrauchen – sind viel besser sichtbar als Ton-in-Ton-Farben. Das Testmodell ist schließlich lediglich ein Werkzeug, das man nie tragen wird.
Im Rücken sollte man sich die Arbeit machen, einen Reißverschluß einzunähen. Er muß nicht verdeckt sein, sollte aber die beiden Hälften des Rückenteils paßgenau verbinden. Er gewährleistet – im Gegensatz zum provisorischen Zustecken des Teils –, daß die rückwärtige Mittelnaht genau dem Schnittmuster entspricht.
Erste Anprobe …
Zugegeben: mit der ersten Version war ich alles andere als glücklich!
Nicht nur ist solch ein helles, wursthautartig enges Oberteil, in dem man sich kaum bewegen kann, über die Maßen unbequem und unvorteilhaft anzusehen; das Testmodell saß so grottenschlecht, daß ich deutliche Zweifel hatte, ob das Programm ein für mich wirklich passendes Schnittmuster produzieren könne.
- Die Taille saß zu tief,
- oberhalb der Brust und unter dem Arm bauschte sich der Stoff,
- die Abnäher saßen zu tief,
- im Rücken schlug der Stoff senkrechte und diagonale Falten.
Dennoch schickte ich Fotos an den Support und erhielt innerhalb von 24 Stunden die ersten Änderungsanweisungen.
… über viele Änderungen … bis zum perfekt sitzenden Modell
Hier ein großes Lob an den Support von Wildginger! Die zuständige Dame entdeckt mit Argusaugen auch kleinste Paßformfehler, die ich gar nicht gesehen hätte, und bietet unkomplizierte, kompetente und meist sehr schnelle Unterstützung. Thank you so much, Karen!!
Über die danach folgenden, weiteren Änderungen arbeiteten wir uns – und hier war mit vier (!) weiteren “Slopern” echte Fleißarbeit angesagt – von den großen Änderungen wie der zu langen Taillenlänge und der falsch gemessenen Rückenbreite zu den Details vor.
Ursache: Meßfehler, Meßfehler und noch mehr Meßfehler
Zur Ehrenrettung des Programms muß ich sagen, daß alle (!) Paßformprobleme auf Meßfehlern basierten. Zu breit, zu lang, zu eng … ich hatte vorher keine Ahnung, wie falsch man messen kann! ;-(
Ein riesiges, zusätzliches Problem verursachte außerdem meine Unkenntnis der amerikanischen BH-Größen, die von den deutschen deutlich differieren. Da sie – genau wie bei uns – Körbchengrößen mit A, B, C etc. angeben, kam ich leider zunächst gar nicht auf die Idee, die Maße zu überprüfen.
Die amerikanischen Maße weichen jedoch von unseren Größen deutlich ab: Wer in Deutschland ein C-Körbchen trägt, braucht in Amiland ein B, wem ein deutsches D paßt, trägt ein amerikanisches C …
Kein Wunder also, wenn sich im Brustbereich der Stoff bauscht, weil frau praktisch automatisch in der Maßtabelle eine Nummer zu groß wählt. Darauf muß man erst mal kommen!
Nachdem dieser Kardinalfehler ausgemerzt war, waren an meinem Nesselmodell nur noch Kleinigkeiten zur Feinjustage notwendig. Letztlich ist es Geschmackssache, ob man die Linie des Armlochs ein wenig weiter innen oder außen bevorzugt, oder ob man die Schulterbreite gern eher großzügig oder knapp hält.
Fazit
Der PatternMaster war für mich die richtige Wahl. Inzwischen arbeite ich an den ersten echten Blusen in verschiedenen Varianten und hoffe, demnächst im Blog darüber berichten zu können.
Ein Hosengrundschnitt steht für die nahe Zukunft auf dem Programm.
Des weiteren erarbeiten ein junge Dame in der Familie und ich einen Oberteil Grundschnitt für sie. Da ihre Figur von den Standardgrößen stark abweicht, ist dieser Sloper eine echte Herausforderung.
Nachtrag 5.7.2018
Eine Bluse, deren Schnittmuster ich mit PatternMaster erstellt habe, finden Sie hier:
Crinkle-Bluse.
Vielen Dank für Ihre Zusammenfassung. Gerade bei der Übersetzung der Begriffe aus dem Englischen hatte ich einige Probleme: Dass „Sloper“ mit „Nesselmodell“ übersetzt wird, konnte mir bisher noch kein Online-Übersetzer sagen.